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Politische Songs - Ausgabe I

Ursprünglich als musikalischer Adventskalender angelegt, lädt diese Sammlung Politische Songs - Ausgabe I ein, anhand weniger Liedzeilen zu erraten, um welchen Song es sich handelt (weitere Songs finden sich in der Ausgabe II, Ausgabe III).

Wem gelingt es, anhand der Abbildung unten zu erraten

- wie der Songtitel lautet?
- wer ihn
  gesungen hat?
- in welchem Jahr er erschienen ist?

Am Ende findet sich die Auflösung mit dem Songtext, Hintergrundinformationen über seine Entstehungsgeschichte sowie ein YouTube-Video.

Viel Spaß beim Mitraten!


SONG 10

> Auflösung

 

KRISTALLNAACH/KRISTALLNACHT  aus dem Jahr 1982/2017, gesungen von BAP / Wolfgang Niedecken

Es kommt vor, dass ich meine: etwas klirrt,
Dass sich irgendwas in mich verirrt,
Ein Geräusch, nicht mal laut,
Manchmal klirrt es vertraut,
Selten so, dass man es sofort durchschaut.
Man wird wach, reibt sich die Augen und sieht
In einem Bild zwischen Breughel und Bosch
Keinen, der um Sirenen besorgt,
Weil Entwarnung viel billiger ist.
Es riecht nach Kristallnacht.

In der Ruhe vorm Sturm, was ist das?
Ganz klammheimlich verlässt wer die Stadt,
Honoratioren inkognito
Hasten vorbei,
Offiziell sind die nicht gern dabei,
Wenn die Volksseele, allzeit bereit,
Richtung Siedepunkt wütet und schreit:
“Heil Halali“, und grenzenlos geil
Nach Vergeltung brüllt, zitternd vor Neid,
In der Kristallnacht.

Doch die alles, was anders ist, stört,
Die mit dem Strom schwimmen, wie sich’s gehört,
Für die Schwule Verbrecher sind,
Ausländer Aussatz,
Sie brauchen wen, der sie verführt.
Und dann rettet keine Kavallerie,
Kein Zorro kümmert sich darum,
Der pisst höchstens ein „Z“ in den Schnee
Und fällt lallend vor Lässigkeit um:
“Na und? Kristallnacht!“

In der Kirche mit der Franz Kafka-Uhr
– Ohne Zeiger, mit Strichen nur –
Liest ein Blinder einem Tauben
“Struwwelpeter“ vor,
Hinter dreifach verriegelter Tür,
Und der Wächter mit dem Schlüsselbund hält
Sich im Ernst für so was wie ein Genie,
Weil er Auswege pulverisiert
Und verkauft gegen Klaustrophobie
In der Kristallnacht.

Währenddessen, auf dem Marktplatz vielleicht,
Unmaskiert, heute mit wahrem Gesicht,
Sammelt Steine, schleift das Messer
Auf die, die schon verpetzt,
Probt der Lynch-Mob fürs Jüngste Gericht.
Und zum Laden nur flüchtig vertäut,
Die Galeeren stehen längst unter Dampf,
Wird im Hafen auf Sklaven gewartet,
Auf den Schrott aus dem ungleichen Kampf
Aus der Kristallnacht.

Da, wo Darwin für alles herhält,
Ob man Menschen vertreibt oder quält,
Da, wo hinter Macht Geld ist,
Wo Starksein die Welt ist,
Vom Kuschen und Strammstehen entstellt,
Wo man Hymnen auf dem Kamm sogar bläst,
In barbarischer Gier nach Profit
“Hosianna“ und „Kreuzigt ihn“ ruft,
Wenn man nur einen Vorteil drin sieht,
Ist täglich Kristallnacht.
Nur noch Kristallnacht.

 

ZUR ENTSTEHUNG

"Kristallnacht" ist die vermutlich bekannteste Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Form eines Popsongs.

Zeithistorisch war "Kristallnaach" Teil einer Umbruchphase. Bereits im Sommer 1979 befasste sich BAP-Sänger Wolfgang Niedecken während einer Reise durch Griechenland, das sich erst kurz zuvor von der Militärdiktatur befreit hatte, mit einem politischen Text zum Thema Neofaschismus. Er wählte dafür das Thema der Pogromnacht. Intention für das Stück war - vor dem Erstarken der politischen Rechten in Europa und der Diskussion über die Vergangenheitsbewältigung der NS-Zeit in der Bundesrepublik - ein Zeichen zu setzen.

Damals veränderte sich der gesellschaftliche Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Zentrale Frage wurde, welche Erinnerung an diese Vergangenheit bewahrt werden soll. Das historisch spezifische Ereignis "Reichskristallnacht" 1938 wird in Niedeckens Song zu einer Metapher für menschliches Fehlverhalten verallgemeinert. Ins Auge fällt, dass das Geschehen in der Gegenwart angesiedelt wird, mit dem Song möchte Niedecken vor neuen Pogromen warnen.

Die Textstrophen machen deutlich, wie weitreichend die "Novemberpogrome" ihrer spezifischen historischen Situation enthoben und als überzeitliches, beständig wiederholbares sowie auch nicht auf Deutschland beschränktes Geschehen präsentiert werden.

Damit es auch wirklich jeder versteht, hat Wolfgang Niedecken 2017 eine hochdeutsche Version seines Klassikers „Kristallnaach“ von 1982 aufgenommen. Wer das Lied zum ersten Mal hört, käme vermutlich nicht auf die Idee, dass das Lied eigentlich fast 40 Jahrer alt ist, frappierend die klaren antifaschistische Aussagen.

 

HINTERGRUNDINFORMATIONEN

Thema Reichspogromnacht